Dresden Vespers
Johann D. Heinichen

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Ein evangelischer Pfarrerssohn und ein katholischer Heiliger –
Musik von Johann David Heinichen
zum Fest des heiligen Franz Xaver

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Ein evangelischer Pfarrerssohn und ein katholischer Heiliger –
Musik von Johann David Heinichen
zum Fest des heiligen Franz Xaver
von Gerhard Poppe

Wie kam ein evangelischer Pfarrerssohn dazu, Musik zu Ehren eines katholischen Heiligen – genauer, zu Ehren des Begründers der katholischen Weltmission im 16. Jahrhundert – zu komponieren und aufzuführen? Solches geschah in den 1720er Jahren am sächsisch-polnischen Hof in Dresden – in einer Zeit, in der die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen vielerorts nur notdürftig befriedet waren und bei sich bietenden Gelegenheiten wieder aufbrechen konnten. Eine Hinführung zu der hier eingespielten Musik kann sich deshalb nicht auf das verbreitete „Leben und Werk“-Schema beschränken. Die in dieser Form erstmalig zugänglich gemachten Kompositionen spiegeln nicht nur eine musikhistorische und persönliche Konstellation, sondern auch die konfessionelle und politische Situation ihrer Entstehungszeit. Ihre (Vor-)Geschichte führt deshalb von mehreren Ausgangspunkten in ein Geflecht innerer und äußerer Bedingungen. Johann David Heinichen wurde am 17. April 1683 in Krössuln, einem Dörfchen im Herzogtum Sachsen-Weißenfels, als Sohn des dortigen Pfarrers David Heinichen (1652-1719) geboren. Seine musikalische Begabung zeigte sich früh; entsprechenden Unterricht dürfte er im Umkreis des Vaters und in der Schule im nahen Teuchern erhalten haben. Da bereits der Vater die Leipziger Thomasschule absolviert hatte, lag nichts näher, als den Sohn ebenfalls dorthin zu schicken. So ging der junge Heinichen 1696 nach Leipzig und genoss den Unterricht der Thomaskantoren Johann Schelle (1648-1701) und Johann Kuhnau (1660-1722) – offenbar so erfolgreich, dass er selbst bald Mitschüler in der Komposition unterweisen konnte. 1702 immatrikulierte sich Heinichen an der Leipziger Universität für das Jurastudium und wirkte gleichzeitig in den beiden Collegia musica mit. Nimmt man noch die Oper hinzu, die von 1693 bis 1720 jährlich zur Neujahrs-, Oster- und Michaelismesse spielte und sich hinsichtlich ihres Personals weitgehend in studentischer Hand befand, so ergibt sich das Bild der alten Messe- und Universitätsstadt – noch vor Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Bestellung zum Thomaskantor (1723) – als eines außerordentlich günstigen Nährbodens für musikalische Talente. Viele Musiker, die später an ganz unterschiedlichen Orten in leitenden Positionen wirkten, erwarben sich im frühen 18. Jahrhundert in Leipzig ihre ersten Meriten. Heinichen bewarb sich 1705 vergeblich auf die Nachfolge Georg Philipp Telemanns (1681-1767) als Musikdirektor der Leipziger Neukirche; stattdessen komponierte er einige Opern und Kirchenmusikwerke. In den folgenden Jahren führten ihn weitere Opernaufträge nach Weißenfels, Naumburg und Zeitz; daneben arbeitete er zeitweilig als Advokat. 1710 nahm er das Angebot eines Zeitzer Hofbeamten zu einer Reise nach Italien an. Dort hielt sich Heinichen hauptsächlich in Venedig auf, komponierte neben zwei erfolgreichen Opern verschiedene Kantaten und andere Werke und knüpfte Kontakte sowohl zu Musikerkollegen als auch zu Mitgliedern adliger Familien. In solchen Konstellationen wurde auch der sächsische Kurprinz Friedrich August (1696-1763, seit 1733 als Friedrich August II. sächsischer Kurfürst und als August III. polnischer König), der im Rahmen seiner großen Kavalierstour mehrfach in der Lagunenstadt weilte, auf ihn aufmerksam. Er engagierte Heinichen mit Wirkung vom 1. August 1716 als Kapellmeister an den sächsisch-polnischen Hof nach Dresden – neben dem bereits seit 1697 amtierenden Kapellmeister Johann Christoph Schmidt (1664-1728). Im Vorfeld der geplanten Vermählung des Kurprinzen mit der Erzherzogin Maria Josepha (1699-1757) kam mit Antonio Lotti (1667-1740) für zwei Jahre noch ein weiterer Kapellmeister hinzu. Komposition und Aufführung der Festopern anlässlich der Kurprinzenhochzeit im September 1719 blieben Lotti vorbehalten; Heinichen lieferte drei Serenaten. Ursprünglich sollte zum Karneval 1720 eine weitere große Oper zur Aufführung kommen. Der Auftrag zur Komposition von Flavio Crispo ging an Heinichen, aber bei einer Probe zerriss der Kastrat Francesco Bernardi (genannt Senesino, 1686-1758) die Rolle seines Kollegen Matteo Berselli (nachweisbar von 1708 bis 1721) und warf sie dem Kapellmeister vor die Füße. Trotz der umgehend eingeleiteten Versöhnung nahm der in Warschau weilende König August II. (1670-1733, bekannter als August der Starke). den Vorfall zum Anlass, um die teuren Sänger zu entlassen. Das bedeutete das vorläufige Ende der italienischen Oper in Dresden. Der Eklat blieb den Zeitgenossen nachhaltig in Erinnerung, denn diese Geschichte wurde noch Jahrzehnte später weitererzählt. Für Heinichen bedeuteten die Entlassung der italienischen Sänger und das (vorläufige) Ende der Oper den Wegfall seines eigentlichen Arbeitsfeldes. Ein Ausweichen auf andere Aufgaben wäre schwierig geworden, denn für die (inzwischen sehr bescheidene) Musik in der evangelischen Schlosskapelle war Johann Christoph Schmidt zuständig, und für die Instrumentalmusik sorgten der Konzertmeister Jean-Baptiste Woulmyer (auch Volumier, um 1678-1728) und sein Stellvertreter Johann Georg Pisendel (1687-1755). Auf Initiative des Kurprinzenpaares wurde stattdessen die katholische Kirchenmusik für Heinichen zur wichtigsten Aufgabe in den Jahren bis zu seinem Tod am 16. Juli 1729. Das war bei seinem Engagement in Venedig sicher nicht so geplant gewesen. Deshalb stellt sich die Frage: Wie kam es dazu?

Ausgangspunkt dieser Geschichte war der Konfessionswechsel des Kurfürsten Friedrich August I., der 1697 zum katholischen Bekenntnis übertrat, um sich der Wahl zum polnischen König stellen zu können. Nach dem Religionsrecht des Westfälischen Friedens (1648) galt dieser Schritt nur für seine Person; am konfessionellen Status Kursachsens änderte sich nichts. Trotzdem bot die entstandene Situation das Potential für manche Konflikte. Zeitweilig verlor der sächsische Kurfürst die polnische Krone an seinen von Schweden unterstützten Rivalen Stanisław I. Leszczyński (1677-1766) und konnte sie erst 1709 im Bündnis mit Russland zurückgewinnen. Um für seine Rückkehr auf den polnischen Thron die Unterstützung des Papstes zu erhalten, hatte er 1708 das alte Opernhaus am Taschenberg zur ersten katholischen Hofkirche nach der Reformation umbauen lassen. An dieser Kirche wurde im Herbst 1709 ein kleines, aus böhmischen Knaben bestehendes und der Geistlichkeit unterstelltes Musikensemble eingerichtet, das für die (zunächst bescheidene) Musik in den katholischen Gottesdiensten zuständig war. Für den Kurprinzen Friedrich August hatte der König große Pläne; deshalb schickte er ihn 1711 auf eine große Kavalierstour durch die wichtigsten Länder Europas. Im November 1712 konvertierte der Sechzehnjährige auf Drängen des Vaters in Bologna zum katholischen Bekenntnis; doch wurde dieser Schritt bis Oktober 1717 geheim gehalten. Nach der Bekanntgabe konnte August eine Heiratsverbindung mit dem Haus Habsburg anstreben, um dem Sohn unter günstigen Umständen die Anwartschaft auf die Kaiserkrone zu sichern. Am 20. August 1719 wurde der sächsische Kurprinz in Wien mit der Erzherzogin Maria Josepha (1699-1757), der Tochter Kaiser Josephs I. (1678-1711), vermählt. Anschließend begab sich das Paar nach Dresden, wo – davon war bereits die Rede – die Hochzeit mit unvergleichlichem Aufwand gefeiert wurde. Danach bekam das Kurprinzenpaar eine eigene Hofhaltung, und vor allem die Kurprinzessin übernahm die Rolle einer Patronin der kleinen und immer noch bedrängten katholischen Gemeinde. Die Förderung der Kirchenmusik nach dem Vorbild des Wiener Kaiserhofes war ihr ein wichtiges Anliegen. Nach dem Ende der Oper gab es dafür bei der Hofkapelle – modern gesprochen – „freie Kapazitäten“, und die wusste das Kurprinzenpaar zu nutzen. Neben Heinichen standen mit dem „Compositeur de la musique italienne“ Giovanni Alberto Ristori (1692-1753) und dem aus Böhmen stammenden Kontrabassisten Jan Dismas Zelenka (1679-1745) weitere erfahrene Komponisten zur Verfügung, die nun ein eigenes, völlig neues Kirchenmusikrepertoire schufen oder Werke fremder Meister für den Dresdner Gebrauch bearbeiteten. Seit Pfingsten 1721 übernahm die Hofkapelle immer öfter die Ausführung der Musik zu den Gottesdiensten in der (alten) katholischen Hofkirche, während das Hofkirchensemble nun für andere Aufgaben zur Verfügung stand. Die einander zum Teil überschneidenden Verpflichtungen führten in diesen Jahren zu einer Blütezeit der katholischen Hofkirchenmusik in Dresden – mit so unterschiedlichen kompositorischen „Handschriften“ wie denen von Heinichen, Ristori und Zelenka. Andererseits trug die entstandene Situation paradoxe Züge, weil der weiterhin bestehende protestantische Hofgottesdienst mit seinem inzwischen bescheidenen musikalischen Aufwand in protokollarischer Hinsicht bis zum Tod Augusts des Starken den Vorrang beanspruchte, so dass liturgische Vorgaben und höfisches Zeremoniell immer wieder miteinander abgestimmt werden mussten.
Zu den markanten Besonderheiten der Gottesdienstpraxis und damit auch der Musik in der Dresdner Hofkirche gehörte die Verehrung des heiligen Franz Xaver (eigentlich Francisco de Gassu y Javier, 1506-1552). Dieser zählte zu den Gründungsmitgliedern des 1540 von Papst Paul III. (1468-1549) bestätigten Jesuitenordens und hatte in den Jahren von 1542 bis zu seinem Tod eine umfangreiche Missionstätigkeit in den damals bekannten asiatischen Ländern von Indien bis Japan begonnen. Gemeinsam mit dem Ordensgründer Ignatius von Loyola (1491-1556) wurde er 1619 selig- und 1622 heiliggesprochen; seine Verehrung erreichte – nicht zuletzt wegen der Briefe, die anschauliche Berichte von seiner Missionstätigkeit enthalten – im katholischen Europa schnell eine weite Verbreitung. Die an der Hofkirche tätigen Jesuiten hatten das Fest bereits 1710 nach Dresden mitgebracht, und die Kurprinzessin Maria Josepha erwählte den Heiligen nach ihrer Ankunft zum besonderen Patron des katholischen Hauses Wettin. Letzteres bedeutete die lokale Aufwertung des Gedenktages (3. Dezember) zum Hochfest, das nun mit Oktav, also eine ganze Woche lang, gefeiert wurde.

Zum Fest des heiligen Franz Xaver gehörten in Dresden am Vormittag ein feierliches Hochamt und am Nachmittag eine Vesper. Die figuraliter musizierten Texte unterschieden sich nicht von denjenigen zu anderen vergleichbaren Festen. In der Vesper folgten auf die fünf Psalmen des Formulars „De Confessore non Pontifice“ (für einen Bekenner, der nicht Bischof ist) der Hymnus Iste confessor (der in Dresden nur aus drei Strophen bestand), das Magnificat und die marianische Antiphon gemäß der Kirchenjahreszeit – hier das Alma redemptoris mater. Wenn Heinichen in den 1720er Jahren insgesamt 30 Psalmen, acht Magnificat-Vertonungen, ebenfalls acht verschiedene Vesperhymnen sowie fünf marianische Antiphonen komponierte, ermöglichte das für die vorliegende Einspielung die Auswahl aus einem vorhandenem Fundus gemäß den liturgischen Vorgaben. Bei Kompositionen mit datierten Autographen erfolgte für diese Einspielung eine Beschränkung auf die Jahre von 1721 bis 1724, so dass hier die Musik zu einer Vesper vorliegt, die 1724 zum Fest des heiligen Franz Xaver erklungen sein könnte. Umgekehrt konnten die einmal vorhandenen Kompositionen gemäß den liturgischen Vorgaben in einer Art „Baukastensystem“ jederzeit für andere Gelegenheiten wiederverwendet werden. In welchem Umfang die Figuralmusik in der damaligen Dresdner Praxis durch einstimmige Versikel, Lesungen, Antiphonen und Orationen ergänzt wurde, geht aus den erhaltenen Quellen nicht hervor. Angesichts der Zeitvorgabe für die gesamte Vesper und der Länge der zu vertonenden Psalmtexte musste sich der Komponist kurz fassen – mit Ausnahme des Dixit Dominus und des Magnificat, für die etwas mehr Zeit zur Verfügung stand. Heinichen begegnete diesen Anforderungen mit einer konzentrierten Satzweise, die ihm klare und einheitliche musikalische Bilder ermöglichte und nur ausnahmsweise Raum für Subtilitäten der Textausdeutung ließ. Das gilt auch für den Hymnus Iste confessor, der mit seinem stile antico-Satz ohne selbständige Rolle der Instrumente aus dem sonstigen Ablauf herausfällt.

Weil das Fest des heiligen Franz Xaver in der Dresdner Hofkirche mit Oktav gefeiert wurde, gab es eine ganze Woche lang jeden Nachmittag eine Andacht, in deren Mittelpunkt die figuraliter musizierten Litaniae de Sancto Xaverio standen. In der Chronik der Hofkirche ist davon erstmals 1721 die Rede; in den folgenden Jahren stabilisierte sich diese Praxis. Die entsprechende Musik war von vornherein eine Aufgabe für die Hofkapelle, und so entstanden in rascher Folge einige Neukompositionen. Der Text stammt aus dem Jesuitenorden und ist nach dem Vorbild der Lauretanischen Litanei aufgebaut. Deshalb bietet eine musikalische Umsetzung dieselben Schwierigkeiten wie die Komposition von Litaneien im stile concertato überhaupt. Andererseits gab es für die Umsetzung dieses Textes keinerlei musikalische Vorbilder. Heinichens erste Litaniae de Sancto Xaverio entstanden 1724 (eine weitere Komposition folgte 1726) und gehören damit in den Festzusammenhang dieses Jahres. Zusammen mit den Werken von Ristori und Zelenka blieben Heinichens Xaverius-Litaneien bis nach der Mitte des 18. Jahrhunderts Bestandteil des Repertoires und wurden erst später durch Neukompositionen abgelöst. Alle Vertonungen dieses Textes gehören nach gegenwärtiger Kenntnis zu den „Alleinstellungsmerkmalen“ der Dresdner Hofkirchenmusik.