Das war mutig! Als Andreas Hammerschmidt den fünften Teil seiner Musicalischen Andachten an Heinrich Schütz zur Beurteilung übersandte, setzte er alles auf eine Karte. Der Dresdner Hofkapellmeister war längst zu einer Orientierungsgröße für die deutschsprachige Musikwelt geworden. Gemäß dem Willen des „musicus poeticus“ sollte der protestantischen Kirchenmusik nach dem Dreißigjährigen Krieg eine deutliche Neuordnung widerfahren. Wie würde der „Vater der deutschen Musik“, der weitgereiste Europäer und unerreichte Meister auf die Musik des „Orpheus von Zittau“ reagieren?
„… Fahrt fort, als wie ihr thut, der Weg ist schon getroffen, Die Bahn ist auffgesperrt, ihr habt den Zweck erblickt. Es wird ins künfftge mehr von euch noch seyn zuhoffen, Weil ihr schon allbereit so manchen Geist erqvickt …“
So heißt es in dem Lobgedicht des Hofkapellmeisters aus Dresden für die Chor-Music auff Madrigal-Manier von 1652/53 seines Komponistenkollegen aus Zittau.
Der sogenannte Lauf der Geschichte hat es dann nicht immer gut gemeint mit dem als Kleinmeister, Vielschreiber oder Schütz-Epigone abqualifizierten Andreas Hammerschmidt. Aber da Geschichte ja von Menschen gemacht wird, ist unsere Beschäftigung mit Andreas Hammerschmidt immer auch ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, sich noch stärker als bisher der Vielfalt der Epochen zu widmen und neben den zugegebenermaßen faszinierenden Avantgardisten der Musikgeschichte auch den nicht selten hochqualitativen breiten musikalischen Alltag in den Blick zu nehmen. Mich haben die kleineren, mitunter verborgenen aber oft viel interessanteren Gassen und Nebenwege stets genauso interessiert wie die allseits bekannten Hauptstraßen – wo eh meist durch zu hohes Tempo die Wahrnehmung verschwimmt.
Gehen wir noch einmal zurück zu jener Bahn, die Schütz für Hammerschmidt weit aufgesperrt sah. Dessen Zeitgenossen gelangten zu einem sehr positiven Urteil über diesen produktiven und erfolgreichen Komponisten. Ablesbar ist dies nicht nur an der weiten Verbreitung seiner Werke in zahl reichen Inventaren und Sammlungen des 17. Jahrhunderts, sondern auch an dem bemerkenswerten Umstand, dass Hammerschmidt einen großen Teil seiner Schöpfungen im Druck veröffentlichen konnte. Dass diese Orientierung am musikalischen Markt seiner Zeit eine gewisse Fasslichkeit der kompositorischen Faktur nach sich zog, die sich von den harmonischen Experimenten eines Matthias Weck mann oder der sängerischen Eleganz eines Christoph Bernhard merklich unterscheidet, ist nur aus nachträglicher Perspektive ein Makel und hat vielmehr zur damaligen Popularität Hammerschmidts vieles beigetragen. Verstellt doch der Blick allein auf die exquisite Produktion im Umfeld der großen Hofkapellen den Blick für die hohe handwerkliche Qualität eines Komponierens, das sich bewusst an den Möglichkeiten städtischer Kantoreien und den Dimensionen der sonntäglichen liturgischen Praxis samt ihrem Bedarf an sowohl andächtigen wie auch gut ausführbaren Stücken überschaubarer Länge orientierte. Dass Hammerschmidt diesen bewusst begrenzten künstlerischen Bezugsrahmen virtuos und elegant auszufüllen verstand, wird durch zahlreiche Auftragswerke belegt, die er für Kirchen und Kapellen von Kopenhagen bis Breslau fertigte. Sein immenses Ansehen drückt sich auch in der Zusammenarbeit mit dem norddeutschen Dichter Johann Rist aus, der den Zittauer Meister mit der Vertonung seiner „Neuen Himmlischen Lieder“ (Lüneburg 1651) und „Neuen Catechismus Andachten“ (Lüneburg 1656) beauftragte und ihn in einem überschwänglichen Lobgedicht zu dessen Chor-Music als weltberühmten Organisten anredete.
Wie bei so vielen Intellektuellen und Künstlern des 17. Jahrhunderts in Mitteldeutschland begann Hammerschmidts Lebenswerk im sächsisch böhmischen Grenzland: Geboren um 1611 im nordböhmischen Brüx (heute das tschechische Most), gelangte er bereits früh in angesehene musikalische Positionen. Von 1633 bis 1634 diente er zunächst als Organist des sächsischen Grafen Rudolf von Bünau auf dessen idyllischem Schloss Weesenstein bei Pirna, bevor er 1635 eine Anstellung an St.Petri in der reichen Bergstadt Freiberg erhielt. Im April 1639 wechselte er kurzfristig auf die frei gewordene Stelle des Orga nisten an der Johanniskirche in Zittau. Damit gelangte Hammerschmidt in eine Stadt und Region, die eine sehr lebendige Schultradition und Ratsmusik pflegte.
Im Vorwort zu seiner Chor-Music verweist Hammerschmidt darauf, sich „unterschiedene(r) genera der Sätzungen in der Music“ befleißigt zu haben. Dadurch war er befähigt, entlang der Gegebenheiten und klingenden Wirklichkeit seiner Umwelt zu komponieren. Er demonstriert, wie eine bodenständige und zugleich künstlerisch anspruchsvolle Chormusik zu realisieren ist, ohne auf die Adaption moderner musikalischer Strömungen verzichten zu müssen. Denn die Grundlagen satztechnischer Orthodoxie standen in den vorgelegten Werken nirgends zur Disposition; dass er auf dem Fundament der „Wahrheit“ – also die handwerkliche Korrektheit des musikalischen Satzes, die zugleich für die Struktur des Kosmos steht und nicht weniger als den Aufbau der Welt meinte – stehe, konnte er wie seinerzeit Claudio Monteverdi stets für seine Kunst reklamieren.
So sehr die Struktur des Tonsatzes einer strengen Konvention bei der Verbindung der Kantionalsatztradition und madrigalischen Ansätzen verhaftet blieb, so originell ist die Einrichtung der Musik. Anders gesagt: Innerhalb eines strengen Regelwerks lotet Hammerschmidt musikalische Freiheit aus. Zu finden sind schnelle Wechsel von Registern und Teilchören oder die Variabilität der Diktion, die zwischen schnellem chorischen Parlando und archaisierender MotettenTradition oft rasant wechselt – stets geleitet von den Forderungen des textlichen Inhalts. Neu um die Mitte des 17. Jahrhunderts ist dann auch die großräumige Disposition der Stücke, das Bemühen um eine Ausbildung musikalischer Form durch die Integration von Ritornellen und intratextuellen Bezügen mittels einer gezielten Regie und Dramaturgie melodischer und harmonischer Wendungen.
Mit einer Auswahl aus der 31 Nummern umfassenden Chor-Music, kombiniert mit Duetten und Terzetten aus seinem Opus primum Musicalischer Andacht Erster Theil (1638), zeigt diese Ersteinspielung die formale Vielgestaltigkeit des Meisters und verdeutlicht dessen auf kreative Handhabung von Gattungsmustern gerichteten Anspruch.
Die Verlagsgruppe Kamprad hat es sich zur Aufgabe gemacht die Gesamtausgabe der Musik von Andreas Hammerschmidt in einer historischkritischen Edition vorzulegen. Die Edition der Chor-Music auff Madrigal-Manier ist der Beginn einer spannenden Entdeckungsreise in die Musikwelt des 17.Jahrhunderts im Herzen Europas. Die musikwissenschaftliche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und deren Noteneditionen sind oft geprägt von einer Haltung, Geschichte nur als Fortschrittsgeschichte, also als Geschichte der Avantgarden und heroischen Vorkämpfer für das Neue zu begreifen und damit ca. 95 % der Kulturgeschichte auszublenden oder aber vom ästhetischen Urteil der Innovation aus alles, was eher nicht avantgardistisch ist, mit einem Makel zu behaften. Dabei galten Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach z. B. spätestens ab der Hälfte ihres Lebens als konservativ und gewissermaßen auch veraltet. Das Diktum von Gebrauchsmusik, das mit Hammerschmidts Musik auch die Kernsprüche Johann Rosenmüllers oder die Kompositionen eines Wolfgang Briegel traf, verstellt den Blick auf die künstlerische Qualität einzelner Werke, zumal die Sammelbände, in denen die geistliche Musik des 17. Jahrhunderts vorgelegt worden war, kaum schon Ordnungsprinzipien folgten, die zyklische Aufführungen begünstigen.
Mit unserer Einspielung holen wir die Sammlung zurück auf das Tableau des Repertoires deutscher Musik des 17. Jahrhunderts. Auf diesem glanzvollen Tableau können sich dann die Geistliche Chor-Music 1648 von Heinrich Schütz, das Israelisbrünnlein von Johann Hermann Schein, die Musicalische Seelenlust von Tobias Michael und die Chor-Music auff Madrigal-Manier von Andreas Hammerschmidt auf Augenhöhe und in Hörweite begegnen. Welch ein Gespräch wird da möglich! Als Hörer künftig diese „Bahn aufzusperren“ – auch das ist mutig. Aber am Ende wird man reichlich belohnt durch höchsten Kunstgenuss und wertvolle musikalische Erfahrungen, die Herz und Geist gleichermaßen in Schwingung versetzen.
Alexander Schneider