Musicalische Seelenlust – Tobias Michael (1592 – 1657)
Die Position des Thomaskantors in Leipzig war im 17. und 18. Jahrhundert eine der angesehensten in Mitteldeutschland. Sie wurde von den angesehensten Komponisten ihrer Zeit bekleidet. Es ist ein wenig verwunderlich, dass ihrem kompositorischen Schaffen heute wenig Beachtung geschenkt wird, mit Ausnahme von Johann Sebastian Bach. Unter seinen Vorgängern ist Johann Hermann Schein wohl der bekannteste. Johann Kuhnau, der unmittelbare Vorgänger Bachs, ist sicherlich ein bekannter Name, aber wenig von seiner Musik wird aufgeführt oder aufgenommen, mit Ausnahme seiner Biblischen Sonaten, einer Sammlung von Stücken für Tasteninstrumente. Seinen Vorgängern Johann Schelle (1677-1701) und Sebastian Knüpfer (1657-1676) ergeht es nicht viel besser. Die Debüt-CD von Ensemble Polyharmonique enthält Musik des am wenigsten bekannten Thomaskantors des 17. Jahrhunderts: Tobias Michael.
Tobias war der zweite Sohn von Rogier Michael (ca. 1552-1619?), der aus Bergen op Zoom in den Niederlanden stammte, in der Wiener Hofkapelle sang und von 1587 bis zu seinem Tod als Hofkapellmeister in Dresden wirkte. Tobias erhielt den ersten Musikunterricht von seinem Vater und wurde 1601 Mitglied der Dresdner Hofkapelle. 1609 wurde er in Schulpforta, der kurfürstlichen Schule bei Naumburg, aufgenommen, die sich auf Musik und Geisteswissenschaften spezialisierte. Von 1613 bis 1618 studierte er Philosophie und Theologie an der Universität Wittenberg. Im Jahr 1619 beriefen ihn die Grafen von Schwarzburg und Hohenstein zum Kapellmeister der Neuen Kirche in Sondershausen (Thüringen). Im Jahr 1630 starb Johann Hermann Schein und Michael bewarb sich um die Stelle des Thomaskantors. Die Tatsache, dass er einstimmig gewählt wurde, zeugt von der hohen Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde. Michael war in der Lage, das Niveau zu heben und dann zu halten, trotz der Bedrängnisse durch den Dreißigjährigen Krieg. Es ist ein Indiz für den guten Ruf des Chores, dass Heinrich Schütz 1648 seine Geistliche Chor-Music Leipzig und seinem “berühmten Chor von solchem Ansehen” widmete. Michaels kompositorisches Schaffen ist nicht sehr umfangreich, auch wenn man bedenkt, dass ein Teil davon verloren gegangen ist. Es umfasst eine Reihe von Gelegenheitskompositionen und einige Choräle und geistliche Lieder. Die vorliegende CD enthält Stücke aus den beiden Bänden, die Michael zwischen 1634 und 1637 unter dem Titel Musicalische Seelenlust veröffentlichte. Dies ist der wichtigste Teil seines Oeuvres. Der erste Band umfasst 30 geistliche Madrigale, die starke Ähnlichkeit mit den bereits erwähnten Israelis Brünlein von Schein aufweisen. Sie haben die gleiche Besetzung: fünf Stimmen – SSATB – und Basso continuo. Die Texte der Stücke entstammen der Bibel, meist aus dem Alten Testament. Wie Schein’s geistliche Madrigale zeigen sie den Einfluss des italienischen Stils – Welch eine Wiederentdeckung!