Das musikalische Universum in der Nussschale
Oder: Eine Gravitätstheorie nach Heinrich Schütz
Wenn taube Nüsse am Strauch hängen, ist meist der sogenannte Haselnussbohrer (Curculio nucum) schuld. Er ist ein 6–9 mm langer, hellbrauner Käfer. Deutlich zu erkennen ist er an seinem langen, stecknadeldünnen Rüssel, an dessen Ende zangenartige Kauwerkzeuge stecken. Damit frisst das Weibchen Ende April oder Anfang Mai Löcher in die Schale der sich bildenden Haselnüsse und schiebt seine Eier einzeln hinein. Mit der Zeit entwickeln sich daraus die eigentlichen Schädlinge: Käferlarven. Sie fressen den nahrhaften Kern auf und lassen eine taube Nuss zurück, die vorzeitig reift und abfällt. Die Larve verlässt die hohle Nuss, vergräbt sich in der obersten Bodenschicht und überwintert dort in einem Kokon bis zum Frühjahr. Im ausgereiften Stadium fliegt der Parasit zum Haselnussstrauch, um dessen Nussanlage und Blätter anzufressen.
Wie detailliert auch immer die Kenntnisse von Heinrich Schütz im Bereich Biologie und Schädlingskunde waren – es ist ein kräftiges Bild, das der Sagittarius benutzt, um im Vorwort zu seiner Geistlichen Chor-Music 1648 den kompositorischen Anspruch und Aufwand seiner Motettensammlung zu verdeutlichen. Mit der Geistlichen Chor-Music 1648 geht es Schütz ums Ganze, um den ‘nahrhaften Kern’ der Musik. Darauf spielt er zumindest in seinem – man kann sagen – legendären Vorwort zu jener berühmten Motettensammlung an. Er spricht da im Bewusstsein einer europaweit geachteten künstlerischen Autorität. Also spricht Schütz von den „nothwendigen Requisita“ des Komponierens, „als da (unter andern) sind die Dispositiones Modorum; Fugæ Simplices, mixtæ, inversæ; Contrapunctum duplex: Differentia Styli in arte Musicâ diversi: Modulatio Vocum: Connexio subiectorum, &c. Vnd dergleichen Dinge mehr; Worvon die gelehrten Theorici weitleufftig schreiben / und in Scholâ Practicâ die Studiosi Contrapuncti mit lebendiger Stimme unterrichtet werden.“ Und dann hebt er den pädagogischen Zeigefinger und mahnt: Fehlen diese „Requisita“ kann „keine eintzige Compostion (ob auch solche denen in der Music nicht recht gelehrten Ohren / gleichsam als eine Himmlische Harmoni fürkommen möchte) nicht bestehen / oder doch nicht viel höher als einer tauben Nuß werth geschätzet werden kan.“ Das ist klar und auch wuchtig formuliert in der Gewissheit einer Persönlichkeit, die bereits mehrere Jahrzehnte als Komponist und Lehrer die Entwicklung der Musikgeschichte Mitteleuropas entscheidend befeuert hatte.
Aber was will Heinrich Schütz mit diesem Bild der ‘tauben Nuss’? Ist er auf seine fortgeschrittenen Tage hin ein konservativer Komponist geworden, der den Pfeil der Avantgarde – jahrelang von ihm selbst kraftvoll abgeschossen – zurück in den Köcher der Tradition und der trockenen Lehrbuchtheorie steckt? Ein bisschen: Ja, aber auch deutlich: Nein! Die Sprachgeschichte kann bei einer Antwort weiterhelfen. Genau genommen das Wörterbuch der Brüder Grimm. Darin beschreiben sie das Wort „taub“ als „was nicht oder worin nichts empfunden oder wahrgenommen wird: abgestumpft, abgestorben, verdorben, inhaltlos, gehaltlos, unfruchtbar, leer, hohl, öde, wertlos, nichtig.“ Und mehr noch: wenn etwas taub ist, dann ist es „ohne gefühl und empfindung.“
Schütz fahndet in diesem Vorwort und letztlich mit den Motetten der Geistlichen Chor-Music nach den Voraussetzungen dafür, dass sich die Musik wie eine Frucht entfalten kann und eben nicht nur eine leere Hülle ist. Er will die Empfindung, den Ausdruck und das Gefühl in der Musik retten – deswegen formuliert er mit seinen Motetten ein wortwörtlich fundamentales Anliegen. Es geht ihm nicht um eine Abkehr von den dynamischen Pfeilen in Richtung musikalische Zukunft, sondern um eine Art geordnete Flugbahn; schon in seinem ersten großen Werkzyklus von 1619, den Psalmen Davids, warnt er vor dem Chaos im musikalischen Universum: „dann daß man wegen menge der Wort ohne vielfältige repetitiones jmmer fort recitire, als gelanget an die jenigen / welche dieses modi keine Wissenschaft haben / mein freundlich bitten / sie wollen in Anstellung berührter meiner Psalmen sich im Tact ja nicht vbereylen / sondern der gestalt das mittel hatten / damit die Wort von den Sängern verständlich recitirt vnd vernommen werden mögen. Im widrigen fall wird eine sehr vnangenehme Harmoney vnd anders nicht als eine Battaglia di Mosche, oder Fliegenkrieg darauß entstehen / der intention deß Authoris zu wider.“ Das große Dokument der Verknüpfung der italienischen Avantgarde mit der mitteldeutschen Tradition, die Psalmen Davids, bergen die Gefahr, dass bei fehlender „Wissenschaft“ alles durcheinander gerate. Wer einmal versucht, die Flugbahn auch nur einer einzigen Fliege zu begreifen, weiß, was Schütz meint.
Aber immer wieder in seinem Schaffen weist Schütz dann auf ein Gegengewicht hin. Wiederholt spricht er von der „teutschen gravitet,“ die besonders in seiner Dresdner Hofkapelle „der perfectio immer näher gekommen“ sei und „in flore“, also in voller Blüte sei.
Wohl war, da ist durchaus auch ein nationales (nationalistisches?) Rumoren im Untergrund zu vernehmen, denn schließlich schreibt Schütz von dieser Gravität vor allem auch in Abgrenzung zu den italienischen Kollegen am Dresdner Hof, diesen „dreimahl jüngern und überdies kastrirten“ Musikern wie etwa Peranda. Schütz beobachtete mit Missfallen, wie die „new ankommenden jungen Musicanten […] mit hindansetzung der alten, gemeiniglich Ihre newe Manier, wie wol mit schlechtem grunde, pflegen hervor zu ziehen.“ Schütz’ Kritik ist aber unbedingt zu differenzieren: Nicht die „newe Manier“ schlechthin ist Gegenstand der Kritik, sondern Beiträge „mit schlechtem grunde“ (wieder so eine Formulierung aus dem Bildbereich der Naturwissenschaften) werden angeprangert – jene Werke also, die das kompositorische Rüstzeug ihrer Urheber vermissen ließen.
Das klingt konservativ? Ist es auch – im ureigensten Wortsinn. Schütz will bewahren. Modern war seine Geistliche Chor-Music 1648 schon bei ihrer Entstehung nicht. Die geistlichen Concerti, umweht vom Geist der emporstrebenden Oper, hatten da der Motette längst den Rang abgelaufen. Aber das war ja gar nicht der Punkt. Dass Schütz concerti komponieren kann, würde er dann 1650 mit den Symphoniae sacrae eindrucksvoll untermauern. Aber die Geistliche Chor-Music will zunächst etwas anderes und hat eine andere Funktion im Gesamtwerk von Schütz. Doch so, wie Schütz in den Kategorien von Gesamtwerk und Vermächtnis denkt und mit seinen Werkzyklen immer wieder Summen seines Schaffens zieht, ist das wohl kalkuliert, dass erst die Geistliche Chor-Music erscheint, als Grundlage, Ausgangspunkt und Fundament für sein zwei Jahre später folgendes opus magnum, die Symphoniae sacrae III.
Das mit dem Vermächtnis ist nämlich so – und für das Verständnis der Motetten von 1648 wichtig: Um 1650 ist bei Schütz zunehmend das Bewusstsein für die Geschichtlichkeit des eigenen Lebenswerkes zu beobachten. Er sprach in einem umfangreichen Memorial von 1651 davon, dass er die „in meiner Jugendt angefangene Musicalische Wercke colligieren, Completiren, undt zu meinem andencken auch in den Druck geben“ wolle. Und es gehe nunmehr darum, „den in meinen jungen Jahren etlicher massen erlangeten gueten namen, bey itzigen meinem Alter zu behaupten.“ Andenken und Selbstbehauptung – das waren neue Töne, die die Vorstellung von Vergänglichkeit wie einen Schleier über das eigene Tun legten und das Bedürfnis nach Fort- und Nachleben aufkommen ließen.
Schütz’ musikalische Generatio – seine Schöpfung – verschmilzt mit dem Gedanken der künftigen Generation, als deren Vater Schütz gelten wollte. Immerhin war Schütz bereits über 60 Jahre alt – und er selbst hatte prominent vertont: „Unser Leben währet siebenzig Jahr.“ Die Sorge war mehr als berechtigt, dass er nicht mehr lange leben würde, zumal er selbst wiederholt über körperliche Gebrechen klagte. Bereits 1651 kommt Schütz auf sein „abgenommen gesicht“ und das Schwinden „aller lebenskräfte“ zu sprechen. Was ist da vielleicht das Erbe, dass er dezidiert bedroht sieht? Da sind wir wieder beim Vorwort zur Geistlichen Chor-Music und der Rede von den „notwendigen Requisita“ des Tonsatzes. Wie sehr ihn das umtreibt, dass dieser ‘gute Grund’, die Gravität des Tonsatzes, zu wenig beachtet wird, kann man auch daran ermessen, dass er in besagtem Vorwort ein Traktat eines befreundeten Musikers ankündigt, das ganz in seinem Sinne aus der Musizierpraxis heraus eine umfassende Musiktheorie entwerfen werde. Zweifellos war das eine Werbeanzeige jene Schrift von Schütz’ Lieblingsschüler Christoph Bernhard, die wir heute als „Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard“ kennen.
Hier müssen wir kurz abschweifen, denn zu weitreichend ist das, was „das deutsche Wunderpaar, diese werten Geister,“ wie der Dichter und Komponist Constantin Christian Dedekind Schütz und Bernhard in einer Ode bezeichnet, bewirkt haben. Schütz verfasst also eine Werksammlung, die als Vermächtnis, als Fundament, als gravitätische, ordnende Kraft wirken will, kündigt im Vorwort dann die theoretische Unermauerung der Kompositionen an, die wenig später Christoph Bernhard verfasst. Bernhard wird dann 1663 auf Vermittlung seines Freundes Matthias Weckmann an die Jacobikirche Hamburg berufen. Für ein paar Jahre hinterlässt er dort Spuren, die auch die sogenannte „Norddeutsche Schule“ um Dietrich Buxtehude und besagten Weckmann bemerkt haben wird. Zurück in Dresden ab 1674 ist er weitere 14 Jahre als Kapellmeister tätig und dann hochgeschätzt in den Ruhestand versetzt; 1692 stirbt er. 40 Jahre später findet sich im berühmten Musicalischen Lexicon von Johann Gottfried Walther die Notiz, Bernhards „teutsches Manuscript von der Composition besitzet der jetzige Hochfürstl. Sachsen-Gothische Capell-Meister, Herr Gottfried Heinrich Stöltzel im Original; die Copien aber davon sind in vielen Händen.“ Wer’s detektivisch mag, kann gern mithilfe der der Forschungsliteratur diese „vielen Hände“ auskundschaften; es sind mitteldeutsche Hände, ganz nah dran an Johann Sebastian Bach.
Das Vermächtnis von Schütz, seine ‘Gravitätstheorie’ und sein Naturschutzprogramm gegen ‘taube Nüsse’, findet vermittelt durch seinen Schüler Christoph Bernhard entscheidend Eingang in die Musikgeschichte des späten 17. und dann 18. Jahrhunderts. Mehr Vermächtnis, mehr Bewahrung des Erbes ist kaum vorstellbar.
Doch das ist Zukunftsmusik. Zurück zur Gegenwart der Geistlichen Chor-Music 1648. Begreifen wir doch, ausgehend von Schütz’ eigenen Äußerungen und gemessen an seinem Lebenswerk, die 29 Motetten als Verbindungwerk. Da ist die ‘gravitet’ als ein Kraftzentrum und da sind die ‘Energieblitze’ der kreativen Auslegung des Wortes in immer neuen, faszinierenden Klangbildern. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, sondern um den Genuss und Gehalt, der daraus entsteht, dass wir italienische Madrigalkunst und fundierte Satzkunst hören, dass wir uns an der kunstvollen Ausschmückung einzelner Worte berauschen und zu einem geistig-geistlichen Kern hörend vordringen können. Letztlich geht es bei Schütz doch um eine erfolgreiche Kreuzung zweier Arten. Er weiß die Ranken, Girlanden und Verästelungen der modernen italienischen Musik, wie schon sein ganzes Leben lang, auch um 1650 weiter zu schätzen. Aber eben nur, wenn es einen tragfähigen Boden gibt, wenn Grundsätze vorherrschen und wenn die Früchte am Haselnussstrauch nicht nur von außen schön aussehen, sondern auch einen Kern enthalten, der dann die Zukunft sichert. Schütz integriert ja im übrigen ganz konkret die italienische Musik in diese Geistliche Chor-Music 1648: Die Nr. 27 „Der Engel sprach zu den Hirten“ ist ursprünglich ein „Angelus ad pastores ait“ aus der Feder von Andrea Gabrieli. Klarer und zugleich subtiler hätte er es nicht sagen können.
Im Nachklang:
Wenn diese Gedanken des Verbindenden zwischen „gravitet“ und weiter Verzweigung weitergedacht werden, dann liegt im Nachdenken über die Geistliche Chor-Music 1648 auch eine wertvolle Botschaft für unsere Gegenwart und Zukunft. Schluss mit dem Denken in Dichotomien, widerstehen wir der (Sehn-)Sucht, die Welt klar umrissen einzuteilen. Diese Werksammlung steht für ein Denken der Zwischenräume, der Bindestriche und produktiven Verknüpfungen. Ja, Schütz spricht von Gravität und meint damit auch eine nationale musikalische Identität, aber diese ist nicht ausschließend, sondern allenfalls eine Selbstversicherung und ein sicheres Terrain, von dem aus angstfrei das Neue, Moderne, Fremde aufgenommen wird. (Regionale oder nationale) Identität und Internationalität sind bei Schütz keine Widersprüche, ebenso wenig wie Tradition und Moderne sich ausschließen. Man muss nur dafür sorgen, dass die Kräfte ausgeglichen sind, dass eine Gravität vorherrscht, die Ordnung garantiert und dadurch Orientierung offeriert, die aber zugleich Kraftentfaltung ermöglicht und nicht unterbindet. Schütz propagiert, gerade weil er sich seiner selbst bewusst ist, eine offene, durchlässige Kultur.
Dr. Oliver Geisler